Yoga der Achtsamkeit

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Der Geiststoff (citta) eines Menschen ist Träger verschiedener Fähigkeiten. Zu diesen geistigen Fähigkeiten gehören das Denkvermögen, der Intellekt und ebenfalls der Verstand. Die Funktionsweisen dieser geistigen Fähigkeiten sind unterschiedlich. Aus diesem Grund bringen sie Gemüts- und Geisteszustände hervor, die voneinander abweichen. Je nachdem, welche der geistigen Fähigkeiten im Geiststoff eines Menschen überwiegt, bilden sich daraus ruhige oder unruhige Gemüts- und Geisteszustände. Das Arbeitsfeld des Geiststoffes ist die vitale und die mentale Ebene.

Das Mental erfahren wir u.a. als Denkfähigkeit mit geistigen und gedanklichen Wahrnehmungen. Der Verstand im Mental macht Erkenntnis möglich und es folgen daraus gedankliche Reaktionen. Das Mental arbeitet eng mit dem EGO zusammen und bemächtigt sich der Sinne/Sinnesorgane. Es lässt sich nachvollziehen, dass diese mentalen Bewegungen eher unangenehm und aufdringlich sind. Vielleicht müssen wir sogar das Wort aggressiv annehmen, denn aufdringlich ist sinnverwandt mit aggressiv.

Das Vital wird vom Mental durchzogen. Die vitale Ebene muss jedoch von der mentalen Ebene unterschieden werden, denn wir erfahren das Vital nicht als Denkvermögen. Das Vital wirkt als Verlangen, also als Wunsch-Energie. Die Wünsche wollen mit den entsprechenden Handlungen befriedigt werden. Das Vital wirkt also auch als Tat-Energie. Die vitale Ebene hat mit Begierde zu tun, woraus entsprechende Reaktionen folgen wie u.a.: Ärger, Furcht, Gier oder auch Zu- und Abneigung. Jede Neigung, ob Zu- oder Abneigung vermehrt die Unruhe im Geiststoff.

Der Intellekt (buddhi) gehört ebenfalls zur mentalen Ebene. Seine Fähigkeiten sind differenzierter, sind feiner. Der Intellekt ist in seiner Wahrnehmung subtiler und sein Verstand ermöglicht dementsprechend höhere, feinere Erkenntnis. Die Reaktionen, die geistigen Bewegungen aus dem Intellekt sind behutsamer, angenehmer, freundlicher und unaufdringlicher.
Vital und Mental fördern eher die unruhigen Gemüts- und Geisteszustände. Der Intellekt entwickelt vielmehr die ruhigen Gemüts- und Geisteszustände. Vital und Mental orientieren sich am Zustand der Ruhelosigkeit. Der Intellekt bezieht sich mehr auf den Ruhezustand. Unruhige Gemüts- und Geisteszustände begrenzen die Lebensenergie im physischen Körper und sie stören die körperlichen Zellen. Unruhige Gemüts- und Geisteszustände belasten die Lebensenergie. Ruhige Gemüts- und Geisteszustände geben der Lebensenergie weniger Widerstand, sie unterstützen die natürliche Lebenskraft, und dies spüren auch die körperlichen Zellen.

Achtsamkeit ist ein geistiger Zustand, welcher vom ruhigen, vom feineren Teil des Geiststoffes unterstützt wird. Im Zustand der Achtsamkeit besänftigen sich die vitalen sowie die mentalen Bewegungen und die Lebensenergie kann bewahrt und vermehrt werden. Achtsamkeit wird in verschiedenen Lehrwegen mit unterschiedlichen Übungsmethoden praktiziert. In der Yogalehre entwickeln und vertiefen etliche Übungen den geistigen Zustand Achtsamkeit. So verfeinern bspw. körperliche Gesten mit Bandhas (mudrās) sowie Gesten der Verinnerlichung die Lebensenergie und fördern eine neue Sammlungs- & Empfindungsfähigkeit. Atemübungen, Atemkonzentrationen, schöpferische Kontemplation sowie Konzentrationsmethoden gehören zur Übungspraxis, um Achtsamkeit und Hingabe, Gleichmut und inneren Frieden sowie Harmonie hervorzubringen.
Egal, welcher Lehre man nachgeht, wer sich in Achtsamkeit übt, bemüht sich um einen ruhigen Geisteszustand, welcher gute Eigenschaften hervorbringen kann. Man strebt ein Verzicht auf unruhige vitale und mentale Bewegungen an, um den physischen Körper und den Geiststoff zu erhellen sowie inneren Frieden zu erfahren. Vielleicht möchte man innere Weite erfahren und mit einem Licht in Berührung kommen, um das begrenzte menschliche Bewusstsein zu transformieren. Das Ziel der Bestrebung um Achtsamkeit ist unterschiedlich. Eine gute Aspiration/Bestrebung ist sicher auch, mit Achtsamkeit Harmonie zu entwickeln. Harmonie ist Gleichmut und Yoga wird gerne und oft auch als Gleichmut bezeichnet.

Achtsamkeit entwickelt Harmonie im Geiststoff. Diese Ausgewogenheit, diese Neutralität wirkt bis in den Körper hinein und befreit die körperlichen Zellen vom belastenden Druck des Mental. Unter dem Einfluss von Vital und Mental wird die allumfassende Lebensenergie begrenzt. Achtsamkeit hilft mit, diese Begrenzung allmählich aufzulösen. Achtsamkeit unterstützt die Umwandlung des unruhigen, des reaktiven Bewusstseins, es beruhigt die vitale und mentale Ebene. Eine Ausgewogenheit zwischen Hingabe und Achtsamkeit ist nötig, damit sich der Geiststoff immer mehr verfeinern und in den Zustand eines „psychischen Herzens“ erheben kann. Diesem subtilen Zustand des Geiststoffes eröffnet sich die Möglichkeit, in Verbindung mit „dem sich entfaltenden seelischen Wesen“ zu kommen. Dies braucht Geduld und viel Verzicht, Verzicht auf die Früchte der Bestrebung.
Aus dem Hintergrund stützt „das sich entfaltende seelische Wesen“ alle körperlichen Bestandteile und gleichfalls den gesamten Geiststoff. Achtsamkeit öffnet uns einen Weg, das reaktive Bewusstsein, die unruhige vitale und mentale Ebene, in ein feines und ruhiges „psychisches Herz“ umzuwandeln. Dieser subtile Zustand des Geiststoffes behindert die Lebensenergie kaum, sodass Körper und Geist mehr Stütze, mehr unverfälschte Lebensenergie von „dem sich entfaltenden seelischen Wesen“ aus dem Hintergrund erfahren dürfen. Ein weiterer Entwicklungsprozess ist dann die Verbindung „des sich entfaltenden seelischen Wesen“ mit der reinen Seele (ātmā), welche von Geburt und Tod unberührt bleibt und „oberhalb“ des Geiststoffes, und genauso „oberhalb“ des sich entfaltenden seelischen Wesens wirkt, stützt und bewahrt.

Yoga der Achtsamkeit widmet sich von ganzem Herzen diesem lebendigen Prozess, dieser Verfeinerung des Geiststoffes, und dies wirkt ebenfalls sehr positiv auf den Zustand des stofflichen Körpers ein.